Heimat fällt nicht vom Himmel - Heimaten und ihre Aneignungsprozesse
„Heimat“ fällt nicht vom Himmel. Es ist ein Gefühl, das man sich im Laufe seines Lebens aneignet. Und so unterschiedliche Lebensbereiche es gibt, so unterschiedliche Heimaten finden sich.
Woran denken wir, wenn wir „Heimat“ intuitiv-vorbewusst erklären sollen?
- Die meisten Menschen nennen hier Landschaft, Orte, das Wetter, das Licht, die soziale Kontakte. Es schwingt ein Gefühl von Geborgenheit, ja Sicherheit und Schutz mit. Man kennt sich, grüßt sich, spricht miteinander. Man kennt die Eltern, die Kinder, die Familien. Oft teilt man gemeinsame Erfahrungen. Es ist zunächst ein lokal-regionaler Bezug.
- Oft wird Heimat auch verbunden mit Volksmusik, Heimatliedern, Fasching, mit Traditionen, mit „Brauchtum und Sitte“.
- Das Wort Heimat ruft Assoziationen von Nähe, Zusammengehörigkeit, Identität und Zusammenhalt hervor. Der Begriff steht für Kleinräumigkeit und gegen die Entgrenzung der Lebensverhältnisse, die die Globalisierung und unsere Weltoffenheit mit sich bringt.
- Es steht für ein intuitives und vermeintlich sicheres In-der-Welt-Sein und meist sind damit positive und wohlige Gefühle verbunden.
- Diese Vertrautheit mit Menschen, Orten und Regionen, mit Gebräuchen und Traditionen, mit bestimmten kulturellen Merkmalen erwirbt sich intuitiv im Sozialisationsprozess.
Meist fängt man erst dann an über Heimat nachzudenken, wenn man im Begriff ist, sie zu verlieren, wenn man sich von ihr entfernt und sich in anderen Kontexten bewegt. Heimat bei diesem
intuitiv-vorbewussten Verständnis steht meist im Gegensatz zu Dynamik und Veränderung.
Heimat – historisch gesehen
Bis ins 19. Jahrhundert hinein
Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hatte der Begriff „Heimat“ eine rein rechtliche Funktion. Gefühle spielten dabei keine Rolle. „Heimat“ hatte in diesem Kontext die Bedeutung des
Rechts auf Aufenthalt und Wohnsitz in der Gemeinde, das Recht Grundbesitz zu erwerben, ein Gewerbe zu betreiben und die Befugnis zur Eheschließung, aber und vor allem beinhaltete es auch die so
genannte „Armenpflege“. Dieses Recht auf „Heimat“ erwarb man durch Geburt, Verheiratung, Anstellung in einem öffentlichen Amt oder Kauf.
Das 19. Jahrhundert in Deutschland
Nach der gescheiterten Revolution von 1848 waren weite Teile des Bürgertums von einem wirklichen gesellschaftlichen Einfluss ausgeschlossen. Es war ihnen nicht gelungen, in der Gesellschaft
entscheidend und steuernd mitzuwirken. Und auch im Rahmen der Industrialisierung und der aufkommenden Wirtschaftszweige hatte das Bürgertum zunächst nur wenig Einfluss auf die politischen und
mentalen Strukturen. Das kam erst im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Zur Zeit des Biedermeiers trauerte dieses Bürgertum den traditionellen politischen und sozialen Strukturen nach. Um sich innerlich zu schützen, war sein Heimatbild eine Utopie, die Utopie der
ländlichen Idylle. Gerade weil die Welt sichtbar in Bewegung geraten war, wurde Heimat in einem Bereich abseits von dieser Bewegung angesiedelt. Heimat, das war vor allem Natur, schöne,
unberührte, höchstens durch die sorgsame Pflege des Landmanns veredelte Natur, fern jedenfalls von all dem, was in den Sturmzeiten der Industrialisierung der Natur angetan wurde. Heimat ist in
diesem Kontext Kompensationsraum. Es ist ein freundliches Heimatbild, bei dem vor allem Sehnsüchte und Gefühle mitschwingen. Deswegen ist der deutsche Begriff von „Heimat“ mit seinen vielen
Konnotationen auch so schwer in Fremdsprachen zu übersetzen.
Hermann Bausinger, ein Tübinger Kulturwissenschaftler, führt aus, dass diese unpolitische Ausrichtung, dieser Rückzug in die Idylle, eine politische Funktion hatte. Die Bürger kamen mit den für
sie dramatischen Veränderungen, dem beginnenden Umbau der Agrargesellschaft hin zu einer Industriegesellschaft, nicht klar und zogen sich deswegen auf das Dauernde der Natur und ihr unverändertes
Gleichmaß zurück. Sie flüchteten sich vor den aufkommenden sozialen und politischen Spannungen, der größer werdenden Klassengegensätze und der inneren Spaltung der Nation. Heimat war damit eine
Kategorie der Befriedung, eine Art Versöhnung der auftretenden Gegensätze. Diese Art von Heimat wurde im wesentlichen mit dem ländlichen Lebensraum, mit dem dörflichen Leben, identifiziert. In
diesem Lebensraum meinte man noch eine gewisse Ordnung und Sicherheit zu finden. Und damit erklärt sich auch ein anderes Merkmal dieses Heimatverständnisses: die Stadtfeindschaft. Die
„bürgerliche Heimat“ im 19. Jahrhundert war antiurban.
Diese einseitige Orientierung an der Vergangenheit begrenzte aber ihrerseits wiederum von vornherein die politische Wirksamkeit der Heimatbewegung. Mit ihrem „provinziellen Antiurbanismus“, ihrem
Pochen auf ständischen Sozialformen und dörflichen Mustern nahm sich das Bürgertum selbst die Möglichkeit, sich konstruktiv mit der ganzen Gesellschaft und ihren sozialen, wirtschaftlichen und
politischen Strömungen auseinanderzusetzen. Die bürgerliche Heimatbewegung zog sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr auf bestimmte Einzelelemente der Kultur zurück. Sie kennen alle Spitzweg und
seine Darstellung des Biedermeiers. Es ist alles nett, klein, verniedlicht und gefühlvoll.
Arbeiterklasse
Das 19. Jahrhundert hatte jedoch auch in Deutschland eine andere Seite: Es gab auch das städtische Proletariat, das mit der Industrialisierung eng verbunden war. Und dieses Proletariat teilte
eben nicht das soeben skizzierte bürgerliche Identifikationsangebot. Ihre Heimat war die Arbeiterbewegung, ihre soziale Gruppe. Heimat hatte hier eine soziale Konnotation. Heimat bedeutete
Solidarität miteinander. Dieser soziale Aspekt von Heimat ist ein weiteres Merkmal dieses sperrigen Begriffs.
Die Funktion von Heimat im 20. Jahrhundert
Hier hatte „Heimat“ ebenfalls eine politische Funktion. Nach dem Zerfall der transnationalen Reiche wie Österreich-Ungarn oder das Zarenreich prägte politische Kleinräumigkeit das Europa des 20.
Jahrhunderts. Es gab Grenzregime, die die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränkte. Der Staat wollte Kontrolle über die Güter- und Menschenbewegungen bekommen. Dies ist die ordnungspolitische
Seite bei einer Auseinandersetzung mit der Funktion von Heimat im 20. Jahrhundert.
Das Dritte Reich steht hier exemplarisch für kleinräumige Ordnung und vor allem staatliche Kontrolle. Auch deswegen spielte im Dritten Reich Heimat eine große Rolle. Heimat und Vaterland wurden
gleichgesetzt. Heimat hatte die Aura des Bewährten und Guten. Und natürlich wurde Heimat mit allen Attributen des konservativen Bürgertums des 19. Jahrhundert ausgeschmückt.
Nach 1945 nahm die Heimatdiskussion einen breiten Raum ein. Es galt die vielen „Heimatvertriebenen“ in die westdeutsche Gesellschaft zu versorgen und einzugliedern. Es kam zu Spannungen,
Ablehnungen der „Flüchtlinge“ und oft gab es wenig Freundlichkeit, ja Feindseligkeit zwischen den Lagern. Dieser Heimatverlust der Flüchtlinge unterstrich den Wert von Heimat. Heimat war hier die
Sehnsucht nach der heilen Welt, nach Geborgenheit, einer geordneten Gesellschaft, wo es Sicherheit gab und jeder versorgt war.
Bezeichnenderweise wurde 1948 denn auch angesichts all der Wanderungsbewegungen im und nach dem 2. Weltkrieg das „Heimatrecht“ in die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen
aufgenommen. Hier kommt wieder der Rechtsbegriff, wenn auch in aktualisierter Form, zum Tragen.
Heimat im 21. Jahrhundert
Heute feiert die Beschäftigung mit Heimat wieder fröhliche Urständ. Dabei lassen sich zwei Formenkreise erkennen:
- Ein dynamisches Heimatverständnis
- Ein statisch- populistisches Heimatverständnis
Das dynamische Heimatverständnis
Weltoffenheit und Globalisierung werden hier positiv bewertet und zum großen Teil als gegeben in der heutigen Welt akzeptiert. Die ganze Welt ist Heimat.
- Kulturelle und ethnische Vielfalt im Alltag werden als gegeben akzeptiert. Mit Fremdheit kann man umgehen.
- Eigene und fremde Mobilität werden als dem Alltag zugehörig empfunden.
- Abgeleitet aus der eigenen Bereitschaft zur Mobilität wird Migration, Zu- und Einwanderung als Gegebenheit des heutigen Lebens akzeptiert.
- Das Gesellschaftsverständnis ist offen und pluralistisch.
- Wert wird auf Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gelegt.
- Man erkennt, dass man von dem „Fremden“ auch viel lernen kann und dass es eine Bereicherung des eigenen Lebens mit sich bringt.
Das eher statisch-populistische Heimatverständnis
Manche Menschen meinen, dass die Migration die „Mutter aller Probleme“ sei und nicht etwa Nichtintegration oder rassistische Diskriminierung, die nicht-deutsche Menschen oft erfahren. Es wird
nicht daran gedacht, dass es Migration schon immer gab, spätestens seit der Völkerwanderung im 5. / 6. Jahrhundert. Man kann sogar sagen, dass der Mensch sich von seinem Ursprungsgebiet irgendwo
in Ostafrika durch Migration über die Erde verteilt hat und sich eben den jeweiligen Bedingungen angepasst hat. (Herfried Münkler)
„Heimat“ wird im eher statisch- populistischen Verständnis im Sinn von Rückzug, Ausschluss, Ausgrenzung, Sehnsucht nach „Schutz“ und vor allem nach einfachen Antworten auf komplexe Gegebenheiten
propagiert. Die Menschen kommen mit all dem Wandel, den Verwerfungen ihres Alltags, mit dem Neuen und Unvertrauten wie Globalisierung, Technologisierung, Digitalisierung usw. nicht mehr mit und
meinen, dass die Weltläufte daran schuld seien. Sie fühlen sich nicht in der Lage, sich mit diesen Neuerungen auseinanderzusetzen und sie sich Schritt für Schritt anzuverwandeln. Die Opferrolle
ist bequemer. Wenn hier von „Heimat“ gesprochen wird, so schwingt der Wunsch nach Beständigkeit mit. Es wird eine eher stationäre Gesellschaft mit Ausschlussprinzipien bevorzugt. Und dies
geschieht nicht nur in Deutschland sondern weltweit. Denken Sie nur an den Brexit oder die Austrittstendenzen aus der EU z.B. von Polen oder Ungarn oder der Slogan „America first“ eines Donald
Trump.
Ursachen hierfür kann sein
- eine weitgehende Entfremdung und Fremdheit mit den heutigen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Sie werden nicht verstanden und sie überfordern.
- ein Gefühl mit den Veränderungen nicht mehr Schritt halten zu können, ja das Gefühl, von ihnen überrollt zu werden
- Psychologisch gesprochen handelt es sich um Projektion und Opferhaltung. Die Verbindung zur Welt ist ein Stück weit verloren gegangen und die „anderen“ sind schuld, dass „es“ eben nicht mehr funktioniert.
Aus dieser historischen Analyse lassen sich folgende Merkmale von Heimat ableiten
- Eine Sehnsucht nach Heil und Erlösung
- Eine Sehnsucht nach sozialer, lokaler und kultureller Zugehörigkeit
- Eine Sehnsucht nach Verortung
- Eine Sehnsucht nach Einfachheit, Klarheit und Übersichtlichkeit
- Eine Sehnsucht nach der Aufhebung von Spannungen und Widersprüchen
- Eine Sehnsucht nach Angstfreiheit
- Eine Sehnsucht nach Verstehen, nach Verständnis, nach Verstandenwerden
Und damit erklärt sich auch, warum so viele Gefühle und Emotionen bei der Diskussion um Heimat mitschwingen. Es handelt sich hier um anthropologische Grundbedürfnisse.
Wenn all diese Sehnsüchte mitschwingen, was heißt das dann für die Aneignungsprozesse von Heimat? Was heißt das für eine entsprechende Bildung?
Ist unser Ziel ein dynamisches Heimatverständnis, so geschieht die Aneignung durch Aktivitäten und den Erwerb von inneren Haltungen.
Es gibt nicht nur eine „Heimat“ sondern viele verschiedene Formen von Heimaten und demzufolge gibt es auch viele verschiedene Aneignungsprozesse. Ein Aneignungsprozess ist immer eine Form der
Bildung wie die personale und emotionale Bildung, soziale und politische Bildung, kulturelle und historische Bildung, religiöse Bildung, Sprachbildung u.v.a.m.
- Wir brauchen ein klares Bewusstsein, dass wir in dynamischen Umwelten leben, dass die Gegebenheiten sich ändern, und dass es eine bestimmte Such- und Orientierungskompetenz braucht, um zurecht zu kommen. Dies beinhaltet auch die aktive Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.
- Verantwortung für sich und sein Leben übernehmen und nicht in die bequeme Opferhaltung gehen, wo man so schön auf andere projizieren kann, wo man schimpfen und jammern kann und immer Schuldige für das eigene und das gesellschaftliche Versagen findet.
- Es gilt zu lernen, dass es immer auf den einzelnen ankommt, und konstruktiven Einfluss auf das unmittelbare Umfeld zu nehmen.
- Wir müssen lernen, mit „diversity“, mit Vielfalt, zu leben. Respekt und Toleranz sind hier Schlagworte, aber eben auch Integration, Auseinandersetzung, Begegnung, Gespräch und Dialog.
- Wir müssen lernen mit Spannungen und Widersprüchen konstruktiv umzugehen. Nur wenn Spannungen und Widersprüche als zum individuellen und gesellschaftlichen Leben als zugehörig empfunden werden, können wir sie nutzen.
- Zugang zu unterschiedlichen Kulturen und Geisteswelten.
- Wir brauchen eine emotionale Bildung. Wir müssen lernen, mit unseren Affekten, mit unseren Gefühlen, mit innerpsychischen Spannungen umzugehen. Dann halten wir Widersprüche aus und können sie konstruktiv für Innovation nutzen.
- Soziales Verhalten will immer und immer wieder eingeübt werden. Wir müssen habituelle Positionen in der Gruppendynamik wechseln. Wir müssen als gemeinsames Ziel das gute soziale Miteinander pflegen.
- Kulturarbeit – Kultur ist eine Art Verfeinerung von Lebensgewohnheiten, das Schaffen von mentalen inneren Bildern, die kollektiv geteilt werden und so wiederum Orientierung vermitteln
- Kreativitätsschulung: niedrigschwelliges kreatives Tun wie häkeln, basteln, stricken, singen, Laientheater, Chöre u.v.a.m. ist für das Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit eine Voraussetzung und prägt seinerseits wieder die Alltagskultur.
- geschichtliches Wissen: Wenn wir um das Gewordensein des Heutigen wissen, können wir damit viel respektvoller umgehen.
- Auch wenn wir in einer weitgehend säkularen Gesellschaft leben, so sind wir doch ganz wesentlich geprägt durch Religion. Und wie vielen der zugewanderten Mitbürgerinnen und Mitbürger ist Religion sehr wichtig und prägt ihren Alltag? Diesen Aspekt der religiösen und kirchlichen Bildung können wir nicht ausblenden.
- Sprachlernen: Wir müssen unsere Muttersprache gut sprechen, um dann auch Fremdsprachen zu lernen. Sprachbeherrschung vermittelt Vertrautheit, Integration und vertreibt Fremdheitsgefühle. Über Sprache erfolgt ganz wesentlich Weltzugang und Weltaneignung.
Und deswegen hilft Bildung bei der Beheimatung
jedes und jeder einzelnen
in seiner persönlichen Welt!