· 

Von der Wirksamkeit niedrigschwelligen kreativ-musischen Gestaltens

Kulturelle Bildung in ländlichen Regionen:
Von der Wirksamkeit niedrigschwelligen kreativ-musischen Gestaltens
Reflektionen zu Ästhetik, Aktivierung und wie Kultur das soziale Miteinander prägt


Bei „Kultur“ denken die meisten Menschen zunächst an die Rezeption von Kunst unabhängig von der
jeweligen Sparte. „Kultur“ ist aber auch und ganz wesentlich das eigene musisch-kreative Tun. Denn
unabhängig vom Ergebnis erleben sich die Menschen hier als gestaltende Subjekte, sie sind aktiv,
werden selbstbewusst und stolz auf sich. Diese Erfahrung überträgt sich auf alle Lebensbereiche
positiv. Nur wer sich seiner Selbstwirksamkeit sicher ist und genügend Selbstbewusstsein hat, geht
auf die Nachbarn freundlich zu und kann sich aktiv in das Dorf- und Gemeindeleben einbringen. Bei
einer solchen Bildung finden die Menschen ihren Platz und ihre Bedeutung in der Gesellschaft, und
erkennen einen Sinn im Leben. Und auch das ist „Kultur“.


Für Kinder aus bildungsfernen Milieus ist genau dieses Erleben und die Stärkung der
Selbstwirksamkeit besonders wichtig. Es gilt an ihren Lebenswelten von Musik- und Medienkonsum
anzuknüpfen, sie in ihrer Jugendkultur abzuholen und die vorhandenen Potentiale zu heben. Die
Kinder und Jugendlichen sollen ihren Wünschen und Hoffnungen Ausdruck geben, ebenso wie ihren
Schwierigkeiten und Befürchtungen. Dabei werden sie nicht als Opfer ihrer Lebensumstände sondern
als Subjekte und Akteure ihrer Lebenswelt angesprochen. So sollen ihre Bewältigungsstrategien, ihre
Handlungsweisen und ihre Werteorientierungen ihnen selbst sichtbar und bewusst werden.
Hier setzt das Förderprogramm „Kultur macht stark – Bündnisse für Bildung“ an.
Der niedrigschwellige Ansatz des kreativ-musischen Gestaltens ist in der Tradition insbesondere von
Pestalozzi einzuordnen mit dem Ansatz „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ und im Kontext der
ganzheitlichen Pädagogik wie sie z.B. von Maria Montessori und anderen weiterentwickelt wurde. Die
sinnlich-konkrete Erfahrung des eigenen Handelns steht im Vordergrund und leitet sowohl zu den
späteren Denk- und Lernleistungen als auch dem sozialen Lernen hin. Heutzutage bestätigen die
Neurobiologen die Wirksamkeit dieses Ansatzes mit Hilfe ihrer bildgebenden Verfahren und
Forschungen. Menschen machen hier Erfahrungen, die sie individuell stärken und zu einem späteren
selbstständigen und kooperativen Wirken in demokratischen Gemeinwesen befähigen.


Das niedrigschwellige kreativ-musische Gestalten

Entscheidend ist die Erfahrung der „Selbstwirksamkeit“: es geht einher mit einer Steigerung des
Selbstwertgefühls und stärkt das Bewusstsein, durch aktive Beteiligung an den gesellschaftlichen
Prozessen zu partizipieren, also nicht immer nur Zuschauer zu bleiben. Die Kinder und Jugendlichen
sollen sich als Subjekte erleben, die gestalten und sich damit in die Lebenswirklichkeit einbringen.
Gerade Kinder und Jugendliche haben noch einen unverstellten Zugang zum eigenen musischkreativen
Tun. Malen, häkeln, stricken, singen, musizieren, kochen, basteln und vieles andere mehr ist
mindestens so wichtig wie die rezeptive Beschäftigung mit der Hochkultur, ja für das Erleben von
Selbstwirksamkeit noch weitaus bedeutender. Denn unabhängig vom Ergebnis erleben sie sich hier
als gestaltende Subjekte, sie sind aktiv, werden selbstbewusst und stolz auf sich. Diese Erfahrung
überträgt sich auf alle Lebensbereiche positiv. Nur wer sich seiner Selbstwirksamkeit sicher ist und
genügend Selbstbewusstsein hat, setzt sich Ziele, hält auch zunächst mit Frustration verbundene
Situationen aus und stellt sich Anstrengungen. Insofern trägt die niedrigschwellige kulturelle Bildung
zur sozialen Integration entscheidend bei.

Alle Maßnahmen des Projekts sind so aufgebaut und kommuniziert, dass musische und kreative
Inhalte schnell erlernt und durchgeführt werden können. Das schnelle Erfolgserlebnis schafft so
weitere Motivation. Und genau dies muss in der Kommunikation herausgestellt werden, da die
Zielgruppe Bildung sehr schnell als fremdbestimmt, ohne Spaß und anstrengend erlebt. Die
Ablehnung formaler Bildungsangebote in der Zielgruppe soll so überwunden werden.
Ein weiteres Merkmal ist das unmittelbare Feedback zu ihrem Beitrag, das die Kinder und
Jugendlichen in der Gruppe und von den Referenten erhalten. Diese Feedback-Kultur ist eine ideale
Bedingung für individuell geförderte Lernprozesse. Im formalen Bildungssystem mit den typischen
Klassenraumsituationen sind die Lehrer gar nicht in der Lage, dies zu leisten.
So werden z.B. Musikinstrumente mit einfachen Materialen selbst gebaut und dann gespielt. Musik
stärkt die Persönlichkeit, fördert Lern- und Akkulturationsprozesse, erfordert und entwickelt
Selbstdisziplin, lehrt Regeln genauso wie Kreativität und stellt so eine echte Chance dar, die
persönliche Perspektive zu verbessern.
Zu nennen ist z.B. auch das Improvisationstheater: Die Jugendlichen lernen, ohne Vorlagen ihre
Lebenswelt und den gesellschaftlichen Rahmen aktiv darzustellen mit den Mitteln des Theaters. Sie
erwerben spielerisch eine Sprachfähigkeit, gewinnen an Textsicherheit und setzen sich auch
körperlich dafür ein.
Zu den Standards gehört, dass die Ressourcen, Potentiale und Erwartungen der Teilnehmenden und
der jeweilig lebensweltliche Bezug für die Konzeption und die konkrete Seminardurchführung die
Voraussetzung bilden. Lernziel ist immer, dass durch das niedrigschwellige kreativ-musische eigene
Tun die eigene Lebenswelt beobachtet, erfasst und anverwandelt wird, wobei die eigenen kulturellen
Prägungen in das künstlerische Produkt einfließen sollen. Die Teilhabe an der Lebenswelt soll nicht
nur rational-analytisch erfolgen sondern wesentlich kreativ-gestalterisch.
Residentielles Lernen oder der komplementäre Sozialraumbezug:
aus gewohnten Bezügen heraustreten und unter einem Dach leben und lernen
Der Großteil der Maßnahmen findet in den Bildungszentren mit ihrem Konzept des residentiellen
Lernens statt. Hierdurch treten die Teilnehmenden aus ihrem Alltag heraus, bekommen räumlichen
und mentalen Abstand dazu und können so Neues lernen. Auch wegen der meist erheblichen
Mobilitätsprobleme in den ländlichen Räumen bietet sich das Konzept des residentiellen Lernens an.
Beobachtungen und Untersuchungen haben ergeben, dass viele Kinder in prekären Lebenslagen
keinen strukturierten Tagesablauf kennen. Die Kinder stehen irgendwann auf, kennen keine
Mahlzeiten, die regelmäßig gemeinsam an einem Tisch eingenommen werden, sind sich selbst
überlassen, sehen sehr viel fern und haben keinen Rhythmus von Aktivität und Entspannung. Dies
trifft nicht nur für die Tagesstruktur zu sondern für das ganze Jahr. Deswegen ist es wichtig, sie aus
ihrem heimischen Umfeld herauszuholen und sie exemplarisch Alltagskultur erleben und erlernen zu
lassen. Der ländliche Raum bietet genau dafür einen sehr niedrigschwelligen Zugang, da in der Natur
und Landwirtschaft der Rhythmus von Tag und Nacht, von Sonne und Regen, von Wärme und Kälte,
von Arbeit und Entspannung gut zu erkennen ist.
Den Teilnehmern wird während dieser Maßnahmen eine feste Struktur geboten, die für sie
Orientierung und Rahmen bietet. Dazu gehören ein gemeinsamer Tageseinstieg und -abschluss sowie
feste Mahlzeiten. Der geordnete Tagesablauf ist zum einen Voraussetzung für die Möglichkeit einer
Gemeinschafts- und Beziehungserfahrung der Teilnehmenden untereinander und ist damit
ausgerichtet auf ein positives Erlebnis der Maßnahmen überhaupt, zum anderen kann er für die
Zielgruppe Hilfen bieten für ihre eigene Alltagsbewältigung auch über die Bildungsmaßnahme hinaus.
3
Handlungsorientierte Bildungsangebote zielen somit auf eine Erweiterung der (Alltags-)
Kulturtechniken der Zielgruppe. Oft ist es das erste Mal seit Jahren, dass diese Kinder und
Jugendlichen in einem geschützten Raum neue soziale und kulturelle Erfahrungen sammeln können.
Weitab von traditionellen Gewohnheiten lernen sie gleichzeitig auf niedrigschwellige Weise inhaltliches
Arbeiten, Verantwortung und Engagement kennen.
Neben dem formellen Lernen im Rahmen der Kurszeiten gibt dieses Konzept dem informellen Lernen
viel Raum durch gemeinsame Gestaltung aller Zeiten außerhalb der Kurszeiten. Informelles Lernen
wird so zum integrativen Bestandteil der Maßnahmen.
Dieser Ansatz des residentiellen Lernens ist gewissermaßen ein komplementärer Sozialraumbezug.
Die Kinder werden aus ihrer Umgebung herausgeholt, machen in den Bildungszentren neue
Bildungserfahrungen, kommen mit mehr Selbstbewusstsein und im Wissen ihrer Selbstwirksamkeit
zurück und können sich danach besser in ihrer sozialen Umgebung integrieren und sie mitgestalten.
Kulturelle Bildung erzeugt mentale Bilder von Aktivität, Selbstwirksamkeit und
gemeinschaftlichen Lebens
Bilder offenbaren sich in allen möglichen Formen. Außere Bilder sehen wir wirklich. Innere Bilder
stellen wir uns vor. Sie formen den Menschen, erzeugen Emotionen und beeinflussen das soziale und
kulturelle Handeln. Diese inneren Bilder nennt man in der Psychologie auch mentale Bilder oder
innere Repräsentanzen. Christoph Wulf zeigt auf, wie diese Prozesse der Imagination und des
Imaginären handlungsleitend für die Menschen sind, wie gerade sie dazu beitragen, dass der Mensch
seinen Alltag, sein Leben, seine Sozialbeziehungen, seine Umgebung gestaltet. Der Mensch benötigt
die Imagination, um Vergangenes zu verarbeiten, Wünsche auszudrücken und sich die Zukunft
vorzustellen. Mentale Bilder oder auch innere Repräsentanzen leiten uns bei der Bewältigung des
individuellen und kollektiven Lebens. Durch Austausch und Weitergabe dieser inneren Bilder entsteht
ein kulturell tradierter Schatz kollektiver innerer Bilder, d.h. gemeinschaftlich geteilte Überzeugungen
und Glaubenssätze zur Bewältigung innerer und äußerer Probleme.
Mittels des eigenen musisch-kreativen Tuns wird die Macht innerer Bilder bewusst gemacht. Indem wir
uns mit Kunst, Kultur, Musik oder Literatur beschäftigen, eignen wir uns weitere Welt-Modelle an,
schließlich nehmen wir ja mit allen Sinnen und auf verschiedenen Ebenen die „Wirklichkeit“ um uns
herum wahr und tragen damit wiederum zu ihrer Ausgestaltung bei, sei es durch Sprache, durch
Farben, durch Bilder, durch Töne – das Spektrum dafür ist weit. Durch diese Aneignung fremder
mentaler Modelle und der Vermischung mit eigenen subjektiven Erfahrungen entsteht dann das Neue.
Die Wahrnehmung der Dinge, Situationen, Konstellationen und Probleme ändert sich. Die
Auseinandersetzung mit Kunst aktiviert.
Bildung trägt dazu bei, dass langfristige, gemeinsame Orientierungen angeeignet, weitergegeben und
weiterentwickelt werden. Geschieht dies nicht, so hat dies tief greifende Störungen des inneren
Beziehungsgefüges der Gesellschaft zur Folge, die sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens auswirken. In aktiven Dörfern gelingt es den Bürgern, sich auf gemeinsame Leitbilder,
gemeinsame Werte und Ziele zu verständigen und diese umzusetzen. Bei einer solchen Bildung
finden die Menschen ihren Platz und ihre Bedeutung in der Gesellschaft, und erkennen einen Sinn im
Leben.
4
Mit kultureller Bildung soziales Lernen fördern
Das soziale Miteinander prägt das Bewusstsein. Die Neurobiologen weisen mithilfe bildgebender
Verfahren sogar nach, dass die Struktur einer Gemeinschaft und des Gehirns sich entsprechen. Der
Psychosomatiker und Neurobiologe Joachim Bauer weist auf die Bedeutung der Spiegelneuronen hin.
Hier findet Lernen statt.
Was eigentlich jeder schon wusste und was die Neurobiologen in den letzten Jahren wunderbar auch
auf der somatischen Ebene nachgewiesen haben, ist, dass Angst, Bedeutungslosigkeit, Einsamkeit
hirntechnisch nicht lange auszuhalten sind. „The brain runs on fun“. Lernen in der Gruppe und das
Lernen von sozialem Verhalten hilft hier sehr weiter.
Die kulturelle Bildung aktiviert und wirkt gegen Depressionen. Nicht behandelte Depressionen
bedeuten Rückzug und Passivität. Depressive sind so auf ihr inneres Leid fokussiert, dass sie gar
nicht in Kontakt treten und kreative Lösungen entwickeln können. Langfristig wird das Auswirkungen
auch auf unser Bruttosozialprodukt haben. Kreativ-musische Aktivitäten sind ein gutes Gegenmittel.
Indem die Teilnehmenden erfahren, dass sie wichtig sind, ihr Beitrag auch für andere zählt, werden
sie zufrieden.


Formen des Sozialraumbezugs
Kunst und Kultur in ländlichen Räumen ist meist von den Bewohnern vor Ort getragen, das eigene
aktive Tun steht im Mittelpunkt. Wenn Sie vor Weihnachten in die Lokalzeitungen schauen, so sind sie
voll mit Berichten über Schülerkonzerte, Tanz- und Gymnastikaufführungen, Sketchen oder
Singspielen der Kinder. So findet man z. B. auch in den meisten Dörfern Blaskapellen mit oft
beachtlicher musikalischer Leistung. Oft wird diese Art von kulturellem Handeln durch das Ehrenamt
getragen, das ja in ländlichen Räumen stärker ausgeprägt ist als in städtischen Metropolregionen. Der
Sozialraum ist engmaschiger, man kennt sich, grüßt sich und spricht miteinander. Vieles funktioniert
über Mund-zu-Mundpropaganda.
Das Schulwesen ist auch ein Kulturfaktor, der ländliche Regionen stärkt. Es reicht aber nicht aus. Hier
ist die Zivilgesellschaft gefordert. Wie immer sind es vor allem einzelne Menschen, die sich in das
Gemeinwesen einbringen, Impulse geben, Aufgaben übernehmen. Es braucht eine gewisse „kreative
Klasse“, um ein geistig anregendes Klima zu schaffen. Früher war das insofern einfacher, als nicht nur
die Pfarrer sondern auch die Lehrer Residenzpflicht hatten. Sie waren vor Ort, dirigierten Chöre,
spielten in der Kirche Orgel oder übernahmen die Jugendarbeit. Aber die Zeiten ändern sich und wir
benötigen neue Formen des Zusammenlebens.
Das Projekt „Kultur macht stark“ trägt zu neuen, weiteren Kulturformen bei, die von der
Zivilgesellschaft getragen werden. Es sind viele Faktoren, die hierzu beitragen. Die Bildungszentren
im ländlichen Raum sind Teil der regionalen Infrastruktur und verstehen sich als Interessensvertreter
der ländlichen Zivilgesellschaft. Sie sprechen unterschiedlichste Kooperationspartner an. Man kennt
sich untereinander, motiviert sich gegenseitig, so dass das Ehrenamt gerade durch die kleinräumigen
Strukturen gefördert wird. Der Vorsitzende des Kulturvereins kennt den Leiter des Kirchenchors, der
wiederum die Sozialarbeiterin kennt, die wiederum Kontakt zur Zielgruppe hat. Es wird eine
Kettenreaktion ausgelöst. So wird im besten Fall Bildungsgerechtigkeit hergestellt
.
Gleichzeitig wird durch diese gemeinsame Aufgabe das Vereinsleben als solches gestärkt. Den
Vereinen wird gerade bei dieser Projektkonzeption eine wichtige Funktion zugesprochen, sie werden
sichtbarer und wichtiger, indem sie sich für die nachwachsende Generation einsetzen.
5
Durch die Maßnahmen ihrerseits entstehen wiederum Impulse für das Sozialwesen. So wehrten sich
z.B. in einem Dorf in Sachsen-Anhalt zwei Familien, die nachweislich NPD-Parolen vertraten, gegen
diese Projekte, bis ihre Kinder selbst daran teilnahmen, Spaß daran hatten, Aufgaben übernahmen
und ihre Eltern zur Abschlussveranstaltung einluden. In einem anderen Fall nahm eine deutsche
Mutter mit ihren Kindern an einer auch von Flüchtlingen besuchten Maßnahme teil und entschuldigte
sich in der Abschlussrunde bei den Flüchtlingen für ihre früheren Äußerungen. Auch solche Ereignisse
sind ein Beitrag zum Sozialraum.
Ein weiterer Sozialraumbezug wird hergestellt, indem die Kinder und Jugendlichen ihre soziale Welt
mit vielfältigen künstlerischen Mitteln darstellen. Sie machen auf sich und ihre Bedürfnisse in sozial
anerkannter Weise aufmerksam und können so ihrerseits das gesellschaftliche Klima ihrer Region
beeinflussen. Sie nehmen auf ihre Weise in ihrem jeweiligen Bereich an den gesellschaftlichen
Prozessen teil. Sie finden neue Bilder für ihre Wirklichkeit, entwickeln ihr Narrativ und erzeugen somit
ihre eigene Phänomenologie. Die Kraft der ästhetischen Gestaltung ist nicht zu unterschätzen, schafft
sie doch eine regionale Atmosphäre, die sich verbreitet.
Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat in einer empirischen Studie
nachgewiesen, dass Dörfer mit einem lebendigem Vereinswesen widerstandsfähiger, besser gegen
demografischen Wandel gewappnet, wirtschaftlich stärker, sozial und politisch aktiver sind. Hier findet
Begegnung statt und jeder fühlt sich für das Gemeinwesen verantwortlich. So sind gerade auch
informelle Gemeinschaften, in denen sich Menschen freiwillig engagieren, extrem wichtig. Ein
Brieftaubenverein oder ein Musikverein haben eine immens politische Wirkung, auch wenn dort
überhaupt nicht über Politik geredet wird. Hier kann jeder unmittelbar erfahren, wie sein Beitrag zählt,
damit die Gemeinschaft funktioniert. Und damit stärkt er den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Vernetzte kulturelle Bildungsarbeit schafft also auch Teilhabemöglichkeiten.
Die Linie lässt sich weiter ziehen bis zum Wirtschaftswachstum, das kein Selbstzweck ist, sondern ein
Nebenprodukt guter sozioökonomischer Entwicklung ist. Zentrales Erfolgskriterium ist hier nicht das
Wirtschaftswachstum, sondern die Frage, ob die Bürger ein Leben führen können, das sie fröhlich,
zufrieden, körperlich und seelisch gesund sein lässt, ob die Kinder und die Alten richtig versorgt sind
oder ob es von Toleranz, Respekt, Nachsicht und Geduld geprägt ist.
Indem die Auseinandersetzung mit Kunst und das eigene kulturelle Handeln zur Entstehung neuer
innerer Bilder beitragen, entstehen neue Lebensmodelle. Wirtschaftliche oder soziale Veränderungen
machen weniger Angst, weil die Menschen bereits eine mentale Gymnastik, ein Training im Umgang
mit Veränderung absolviert haben. Der Zukunftsforscher Matthias Horx ist der Meinung, dass Angst
der größte Hemmschuh von Entwicklung ist. Sie wirke wie eine ansteckende Krankheit, wie eine
Epidemie.
Kulturelles Handeln kann uns hier widerstandsfähiger machen, weil es unser Gehirn entsprechend
entwickelt. Und wenn genügend Menschen mit auf Lösung getrimmten Hirnen zusammenkommen,
dann entsteht ein neues Klima, mehr Optimismus und ganz einfach mehr Erfolg. Die gute Nachricht ist
dabei, dass es nur 10% „Inspirierte“ braucht, um Projekte und Veränderungen in Gang zu bringen.
Der amerikanische Wirtschaftsgeograf Richard Florida spricht von der „kreativen Klasse“, man könnte
es auch die kulturtragende Schicht nennen, die für ein lebendiges Gemeinwesen notwendig ist. Ihnen
ist im umfassenden Sinne das kulturelle Handeln zu eigen und sie ziehen dann Gleichgesinnte nach.
Auch in den ländlichen Räumen gilt, dass die Zukunft von einer ideengetriebenen Wissensgesellschaft
geprägt ist. Die heutige Arbeitsorganisation verlangt wesentlich mehr Selbstständigkeit im Denken und
Handeln, mehr Autonomie und mehr Kreativität beim Lösen von Problemen. All dies kann man durch
kulturelles Handeln üben.


6
Diejenigen Regionen, wo es gelingt, dass sich Verhaltensweisen, Sozialsysteme, Technologien,
Institutionen und Geschäftspraktiken den neuen Bedingungen anpassen, werden erfolgreich sein. Sie
ziehen dann auch gut ausgebildete talentierte Arbeitskräfte an, die ein Eckpfeiler wirtschaftlicher
Wettbewerbsfähigkeit sind und wiederum die Zukunftsaussichten der Regionen verbessern. Die
kreativen Köpfe einer Gesellschaft und die von ihnen ausgehenden Innovationen sind entscheidend
für das ökonomische Wachstum von Regionen. In diesem Sinne stärkt kulturelles Handeln alle und
eben auch ländliche Regionen.
Indem die Zivilgesellschaft sich verantwortlich um Menschen in prekären Lebenslagen kümmert, wird
Bildungsgerechtigkeit hergestellt. Eigenverantwortung, Gestaltungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit
darf kein Privileg des so genannten Bildungsbürgertums bleiben.
Ausblick und kritische Reflektion
Die genannten Bezüge und Wirkungen kultureller Bildung liegen auf der Hand. Wichtig ist, dass dieser
Ansatz verstetigt und weiterhin gefördert wird. Kultur leistet einen großen Beitrag für ein
funktionierendes Gemeinwesen, ist ihrerseits jedoch wiederum auf Förderung und Unterstützung
angewiesen.
„Kultur macht stark“ ist somit ein wichtiges Mosaiksteinchen, das unbedingt fortgesetzt und auf eine
noch breitere Basis gestellt werden sollte.


Literaturhinweise

 

Pädagogik

  • Christoph Wulf: Bilder des Menschen - Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur. 2014

Neurobiologie

  • Gerald Hüther: Kommunale Intelligenz: Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden. 2013
  • Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone

Regionalentwicklung

  • Richard Florida: Reset: wie wir anders leben, arbeiten und eine neue Ära des Wohlstands
  • begründen werden. 2010.
  • Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die Zukunft der Dörfer: zwischen Stabilität und demografischem Niedergang. 2011
  • Matthias Horx: Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten. 2009

Kulturförderung in den Regionen

  • Kristina Volke (Hrsg.): Intervention Kultur: von der Kraft kulturellen Handelns. 2010.
  • Kristina Volke und Christoph Links (Hrsg.): Zukunft erfinden: kreative Projekte in Ostdeutschland. 2009
  • Inge Kloepfer: Kent Nagano: erwarten Sie Wunder! 2014.