2017 war durch den Bogen zweier Reisen geprägt. Im Sommer waren wir mit Studiosus für 20 Tage in China und Ende Oktober für ein paar Tage in Athen. Wir hatten 2014 in Tansania die Lkws mit chinesischen Schriftzeichen, die Betonmischer mit chinesischen Schriftzeichen, den VW-Bus vor dem Kindergarten mit chinesischen Schriftzeichen gesehen und uns ausführlich mit dem Hotelmanager von „Lazy lagoon“ gesprochen und dabei wirklich gespürt, dass die Chinesen in Afrika sehr aktiv sind und ihre Art der „Entwicklungshilfe“ dort machen, d.h. sie geben vor, sie bauen die Infrastruktur und zwar Straßen, Bahnen und Häfen, sie bringen ihre eigenen Arbeiter mit, sie kaufen Ackerland und Bodenschätze auf und meinen damit, dass sie wesentlich effizienter als die westlichen Länder mit ihrem Ansatz Hilfe zur Selbsthilfe, Menschenrechte usw. sind. Das gab uns den Anstoß, dass wir China mit eigenen Augen sehen wollten. Natürlich besuchten wir die Sehenswürdigkeiten, die man so besichtigt wie die Verbotene Stadt, den Tianem-Platz, das Mao-Mausoleum, den Himmelstempel, die Terrakotta-Armee u.v.a.m. Wir besichtigten auch viele Tempel und Heiligtümer. Auffallend war, dass auch hier, ob es Hinduismus, Buddhismus oder irgendwelche Ahnenverehrungen waren, immer wieder die Dreiheit der Götter auftauchte. Das scheint eine religiöse Grundstruktur zu sein.
Wir hatten einen kundigen Reiseführer, der uns viele Überblicksreferate hielt und hatten in jeder Stadt noch einen chinesischen „local guide“. Das war insofern interessant, als sie nochmals ganz anders vom konkreten Leben in China berichteten und da es so viele waren, kamen sehr unterschiedliche Aspekte zum Tragen. Sie waren alle sehr freundlich, sehr kompetent und sprachen meistens ganz gut Deutsch.
Uns interessierte vor allem das heutige China. China hat 1,4 Milliarden Einwohner, das sind 20% der Erdbevölkerung. Wegen der jahrelangen Einkindpolitik droht nun auch dort die Überalterung der Gesellschaft, weswegen sie in 2017 aufgehoben wurde. Wir sahen allerdings viele sehr niedliche kleine Kinder. Bei dieser Masse versteht sich, dass das für die westliche Industrie ein Absatzmarkt erster Güte ist. Wenn man sich die Lebensverhältnisse vor Ort etwas näher ansieht und dann auch noch Hintergrundinformationen erhält – in der Gruppe war ein Manager, der drei Jahre für eine deutsche Firma vor Ort gearbeitet hat und der dann des öfteren etwas anderes erzählte als die offensichtlich offizielle Lesart der local guides, auffallend war allerdings, dass er dies meist sehr zurückhaltend und mit leiser Stimme tat. Offiziell gibt es Arbeitsschutz, Arbeitsverträge, bezahlten Urlaub, Krankenversicherung usw. Wir sahen aber viele schwer arbeitende Männer, Arbeiter, die ohne Schutzbrille schweißten, abenteuerliche Gerüste bei den Hochhäusern im Bau, Frauen, die im Fluss ihre Wäsche mit der Hand wuschen, in Shanghai war ich ganz geschockt, als ich im Restaurant auf dem Gang zur Toilette die jungen Kellnerinnen und Köche in den Nischen aneinander geschmiegt schlafen sah, die dann später mit einem Lächeln uns bedienten. Bei der Flussschifffahrt auf dem Yangtse sahen wir die Unterkünfte des Personals, da wird einem schon etwas anders.
Weite Strecken von China sind ja nicht bewohnbar und können nicht bewirtschaftet werden, weil sie zu unwirtlich sind. Dies ist ja auch der Grund, warum China in Afrika so investiert. Inzwischen wohnen bald mehr Menschen in den Megacities als auf dem Land, obwohl dies für die Ernährung nach wie vor so wichtig ist. Am Anfang fotografierten wir immer noch die Skyline: unglaublich hässliche grau-braune schmale Hochhäuser. Die Chinesen nennen das „Betonwald“. Sie wurden in den letzten Jahren in großer Geschwindigkeit hochgezogen. Oft hieß es, hier war vor fünf Jahren noch Acker und es gab nichts. Die Wohnungen sind zwischen 40 und 60 qm groß und es wohnen viele Menschen darin, wir wissen nicht mehr genau, ob es 1.000 oder 5.000 pro Hochhaus waren. Eigentumswohnungen sind Statussymbol und das in einem sozialistischen Land! Ganze Familien verschulden sich für ihre Kinder, insbesondere die Söhne, damit diese Chancen auf dem Heiratsmarkt haben. Weil bestimmte Metropolregionen komplett überlastet sind, werden in anderen Regionen ganze Siedlungen hochgezogen, um einen Anreiz für Umsiedlungen zu geben. Diese sind aber noch gar nicht bewohnt, so dass es selbst im Bus und am Tag unheimlich ist, da durchzufahren. Die Stromversorgung ist abenteuerlich, auch in den Neubaugebieten, ich musste sie einfach immer wieder fotografieren. Es sind viele, viele Kabel, die in Höhe des ersten Geschosses einfach von Mast zu Mast gespannt sind, teilweise riesige Knoten ausmachen. Trinkwasser ist auch nicht unbedingt gegeben. In allen Hotels wurde uns gesagt, dass wir unsere Zähne nicht mit dem Wasser aus dem Hahn putzen sollten. Es stand immer extra Mineralwasser bereit. Auf anderem Gebiet staunten wir nur so: sie bauen ganz offensichtlich in großer Geschwindigkeit Straßen in mehreren Stockwerken d.h. auf Stelzen, die oft drei Lagen haben. In Luoyang hieß es, dass vor acht Monaten noch Acker war, wo heute viele, viele Autos fahren. Überhaupt der chinesische Verkehr, ein Alptraum. Was wir in Europa Stau nennen, ist dort noch beinahe flüssiger Verkehr. Auch Autos gehören in dem ehemals kommunistischen Land zu den Statussymbolen und wir staunten, was für große Karossen wir da so sahen. Beeindruckend war das Bahnfahren. Die Verbindungen sind unglaublich schnell, davon können wir Deutschen nur träumen, selbst nachdem es die so genannte „Schnellstrecke“ zwischen Berlin und München gibt:
750 km in drei Stunden in China, 3000 km in acht Stunden! Und das waren noch nicht einmal die richtigen Schnellzüge, wie sie von Shanghai aus fahren. Es ist allerdings auch ein Abenteuer. Kontrolle ist angesagt. Wenn man die Schwelle des Bahnhofs übertritt, wird das gesamte Gepäck geröntgt und man wird wie am Flughafen abgescannt. Bis man am Gleis ist, wird die Fahrkarte noch zweimal kontrolliert. Auf der Fahrkarte steht nicht nur das Datum, die Verbindung, die Uhrzeit, nein, es ist darauf auch der Name und die Reisepassnummer vermerkt. Und Chinesen scheinen gerne zu reisen. Die Bahnhöfe und Züge waren voll, jeder Platz besetzt. Auch auf den Flughäfen wimmelte es von Menschen. Die Chinesen lachen über unseren Berliner Flughafen. So etwas bauen sie in drei Jahren. In Chongking war der Flughafen gerade vor drei Tagen eröffnet, alles war total neu, schön, technisch perfekt, zumindest an der Oberfläche.
China ist ein Land der Widersprüche! Die Wirtschaft scheint zu boomen und uns wurde erzählt, dass die Chinesen nicht mehr die verlängerte billige Werkbank des Westens sein sondern selbst Qualitätsprodukte herstellen wollen. So wurde uns von einem Konsumgüterhersteller erzählt, der nach dem Besuch bei Miele in Gütersloh seine Arbeiter anwies, die gerade hergestellten Maschinen auf die Straße zu stellen und sie öffentlich zu zerstören. Es sollte jetzt nur noch Qualitätsware produziert werden. Nach dem was uns erzählt wurde, scheint es ein vollkommen entfesselter Manchesterkapitalismus mit viel Wildwuchs zu sein, allerdings bei einem gleichzeitig streng regulierenden und vor allem kontrollierenden politischen System. Die vergleichsweise liberalen Zeiten eines Deng Xiaoping sind vorbei. Liest man die Zeitung, zieht Xi Jinping mächtig an. Er propagiert den Sozialismus chinesischer Prägung und der bedeutet Kontrolle. Auf den Straßen sieht man viele Kameras. Und was man jetzt so in der Zeitung liest mit dem Punktesystem zum sozialistischen Wohlverhalten, da wird es uns ganz anders. Die Chinesen scheinen ein sehr unbefangenes Verhältnis zur Digitalisierung zu haben. Sie benutzen wirklich alle ihre Smartphones, wodurch sie ja wahrlich transparent werden. Ein local guide erzählte uns, dass er bei Benutzung des westlichen und des chinesischen Internets vollkommen andere Suchergebnisse bekommt.
Es war eine sehr beeindruckende Reise, durch die wir die Welt jetzt oft mit etwas anderen Augen sehen. Als wir zurück in Berlin waren, kam uns die Stadt beinahe menschenleer vor. Es war so ruhig, der Verkehr so flüssig. Wir fragen uns, ob der Föderalismus und unsere kleinteilige Politik hier noch die angemessene Regierungsform ist, um auf all die anstehenden Probleme zu reagieren. Vor allem fragen wir uns, ob wir die wirklichen Probleme überhaupt wahrnehmen. Da haben wir so unsere Zweifel.
Auf der Reise fragten wir uns aber vor allem, wie die Chinesen seelisch gesund bleiben bei all dem Stress, der Ausrichtung auf das Kollektiv, der Unterwerfung unter Regeln und Vorgaben. Sie scheinen ganz andere Ich-Konstrukte zu haben und ihre innerpsychischen Prozesse einfach anders zu regulieren. Ich habe u.a. darüber mit einer Psychotherapeutin gesprochen, die China relativ gut kennt und sie erklärte mir, dass sie ein kollektives Ich haben im Gegensatz zu unserem individuellen in Europa. In der Philosophie trägt Konfuzius sicherlich dazu bei. Uns ist es zwar immer noch ein Rätsel, aber es ist nachdenkenswert.
Und nun kommt unsere zweite Reise Ende Oktober ins Spiel. Wir waren für fünf Tage in Athen, weil wir dort unseren ehemaligen Gemeindepfarrer aus Hamburg-Altona besuchten, der dort in der Rente die deutschsprachige Gemeinde betreut. Natürlich waren wir auf der Akropolis und in dem neuen, sehr schönen, sehr lichten, sehr modernen Museum der Akropolis mit all den wunderbaren antiken Statuen und Friesen in ihrer unglaublich lebendigen Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Bewegtheit. Und da dachten wir, ja, das ist es. Wenn eine Kultur eine solches Bild vom Körper hat, die hat auch ein anderes Ich-Verständnis, das von den Sinnen geprägt und getragen ist. Das fördert die Individualität. Die Chinesen haben dagegen in der Kunst ja eine doch recht stilisierte, gewissermaßen entkörperlichte Darstellung, der Beamte dritten Ranges mit dem Sommerhut oder so ähnlich.
Dieser Bogen der Einblicke in diesem Jahr war sehr spannend. Wir verfolgen mit anderen Augen das jetzige Weltgeschehen.