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Kunst und Kultur in den ländlichen Räumen

 

Sie kennen hier alle die Situation in den ländlichen Räumen sehr gut. Viele Regionen leiden unter Abwanderung, schwacher Wirtschaftskraft, schwierigen politischen Verhältnissen.Aber es gibt auch Regionen, in denen Neues entsteht und ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen ist.

 

 

 

Ländliche Räume kann man mit der Problembrille sehen, alles ist dann etwas grau und dunkel, oder auch mit der Potentialbrille. Dann können wir auch ihre Entwicklungsperspektiven, ihre Chancen und ihre Ressourcen erkennen.

 

 

 

Einen Faktor, den wir mit unserer Potentialbrille entdecken können, ist das kulturelle Handeln. Und dies ist ja auch das Thema dieser Veranstaltung.

 

 

 

Kunstgenuss gehört z.B. dazu. Der städtische Raum hat dabei gewiss einen kleinen Vorteil. Zur Ausübung von Kunst gehört auch Wirtschaftskraft. Die Unterhaltung eines Theaters, eines Museums oder eines Orchesters kosten Geld. Ein großer Kreis der Bevölkerung muss angesprochen werden, denn nur ein Bruchteil zeigt Interesse.

 

 

 

Kunst und Kultur in ländlichen Räumen dagegen ist meist von den Bewohnern vor Ort getragen, das eigene aktive Tun steht im Mittelpunkt. Wenn Sie vor Weihnachten in die Lokalzeitungen geschaut haben, so waren sie wieder voll mit Berichten über Schülerkonzerte, Tanz- und Gymnastikaufführungen, Sketchen oder Singspielen der Kinder. So findet man z. B. auch in den meisten Dörfern Blaskappellen mit oft beachtlicher musikalischer Leistung. Oft wird diese Art von kulturellem Handeln durch das Ehrenamt getragen, das ja in ländlichen Räumen stärker ausgeprägt ist als in städtischen Metropolregionen. Der Sozialraum ist engmaschiger, man kennt sich, grüßt sich und spricht miteinander. Vieles funktioniert über Mundpropaganda.

 

 

 

Sicherlich, kulturelles Handeln kann die Auswirkungen des demografischen Wandels in den ländlichen Regionen oder gar die Abwanderung der Leistungsträger nicht aufhalten, aber es kann doch zur Lebensqualität beitragen und Potentiale stärken.

 

 

 

Hierüber wollen wir uns heute miteinander austauschen.

 

 

 

Oft hört man, dass Kunst und Kultur nur Luxus sind, worauf wir in schlechten Zeiten am ehesten verzichten können. 1947 brachte es ein Abgeordneter des Stuttgarter Landstags bei der Haushaltsberatung des Kunstetats auf die Formel „Wir brauchen keine Kunst, wir brauchen Kartoffeln!“. Dies löste zunächst großes Gelächter aber auch Nachdenken aus. Dieser Abgeordnete, ein rechtschaffener Mann aus Oberschwaben, der die Einwohner seines Wahlkreises gut kannte, hat sich gründlich getäuscht. Denn gerade die Region Oberschwaben hat neben zugegebenermaßen einem begnadeten Klima und sehr guten Böden ein reiches Kulturleben, denken Sie an die Kirchen und Klöster des Oberschwäbischen Barock aber auch an die noch sehr lebendigen Gebräuche der Fasnet und lebendigen Stadt- und Dorffesten. Und sie zählt heute zu den Regionen Deutschlands mit der niedrigsten Arbeitslosenquote, d.h. in diesem Fall Vollbeschäftigung. Der kulturelle Faktor hat dabei sicherlich auch eine Rolle gespielt.

 

 

 

In meinem Vortrag möchte ich im folgenden zunächst einiges Grundsätzliches zur aktivierenden Wirkung von Kunst und Kultur sagen, um dann auf die Wirkungen in den ländlichen Räumen zu sprechen kommen.

 

 

 

 

 

Die Rezeption von Kunst

 

Denkt man an Kultur, so denkt man zunächst an das, was geboten wird, an Konzerte, Ausstellungen, Museen, Theater. Die Menschen gehen hin, weil es schön ist, weil sie eine Unterbrechung vom Alltag wünschen, weil sie sich unterhalten lassen wollen, weil man sich dort trifft. Man könnte meinen, dass es sich um passiven Konsum handelt.

 

 

 

Aber bereits bei der reinen Rezeption ist eine aktive Komponente dabei. In jedem Fall setzt man sich mit etwas auseinander, lässt etwas Anderes oder gar Neues in sein Leben hineinwirken, das man versucht zu verstehen. Und dieser Akt des Verstehens ist bereits Aktivität. Egal wie uns das Werk oder die Aufführung gefällt, wir versuchen eine Bedeutung und einen Sinn zu finden. Das Werk rührt in uns etwas an, das wir mit eigenem Vorwissen und Gefühlen vermischen und daraus entsteht ein neuer, ein erweiterter Verständnishorizont.

 

 

 

Kunst, Musik und Literatur sprechen Kopf, Herz und Verstand an. Alle Sinne sind aktiviert. Wir sehen mit anderen Augen und nehmen ungewohnte Meinungen und Reaktionen wahr. Spielerisch und ohne Angst treten wir in andere Lebenswelten, Lebensstile, Berufe und Kulturkreise ein. Wir erweitern unseren Vorrat an mentalen Modellen.

 

 

 

Durch diese Aneignung fremder mentaler Modelle und der Vermischung mit eigenen subjektiven Erfahrungen entsteht dann das Neue. Die Wahrnehmung der Dinge, Situationen, Konstellationen und Probleme ändert sich. Die Auseinandersetzung mit Kunst aktiviert uns.

 

 

Ernst Gombrich, ein berühmter Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts ging sogar so weit zu sagen

 

 

 

Kunst ist eine Institution, der wir uns immer dann zuwenden, wenn wir uns schockieren lassen wollen. Dieses Bedürfnis empfinden wir, weil wir spüren, dass ein gelegentlich heilsamer Schock uns gut tut. Sonst würden wir allzu leicht in einen Trott geraten und neuen Herausforderungen, die das Leben uns stellt, nicht mehr gewachsen sein. Die Kunst hat also, anders gesagt, die biologische Funktion einer Probe, eines Trainings in mentaler Gymnastik, das uns hilft, mit dem Unerwarteten umzugehen.

 

Zitatende

 

 

 

Vielleicht sagen Sie jetzt, das ist ja eine nette Erklärung von Kunstrezeption aber was hat das mit Regionalentwicklung zu tun? Das ist doch unser eigentliches Thema!

 

 

 

Antworten hierzu sind z. B.

 

  •  Kunst bedeutet immer Vielfalt und Regionen benötigen gerade diese Vielfalt, diese Anregungen, diese Impulse oder auch diese Befremdungen, damit sich Kreativität entfalten kann und Neues entsteht.
  • Kunst inspiriert Menschen und nur „Inspirierte“ können Veränderungen initiieren – Kultur ist dafür gewiss nicht der einzige Weg, aber sie kann dazu beitragen. Sie macht uns im Kopf beweglich.
  • Die Auseinandersetzung mit Kunst macht toleranter und nach der Theorie des amerikanischen Wirtschaftsgeografen Richard Florida ist Toleranz eine der Voraussetzungen für erfolgreiche Regionalentwicklung.

 

 

 

Das eigene kulturelle Handeln

 

Die Beschäftigung mit der Hochkultur ist das eine. Das andere ist das eigene musisch-kreative Tun. Malen, häkeln, stricken, singen, musizieren, kochen, basteln und vieles andere mehr ist mindestens so wichtig, vielleicht sogar noch viel wichtiger. Denn unabhängig vom Ergebnis erleben sich die Menschen hier als gestaltende Subjekte, sie sind aktiv, werden selbstbewusst und stolz auf sich. Diese Erfahrung überträgt sich auf alle Lebensbereiche positiv. Nur wer sich seiner Selbstwirksamkeit sicher ist und genügend Selbstbewusstsein hat, geht auf die Nachbarn freundlich zu und kann sich aktiv in das Dorf- und Gemeindeleben einbringen.

 

 

 

Bei einer solchen Bildung finden die Menschen ihren Platz und ihre Bedeutung in der Gesellschaft, und erkennen einen Sinn im Leben.

 

 

 

Die Neurobiologen haben dafür eine interessante Erklärung: „Bedeutsamkeit“. Nur wenn etwas bedeutsam für uns ist, können wir uns für etwas begeistern. Und Begeisterung ist laut Gerald Hüther „Dünger fürs Hirn“.

 

 

 

Jedes Mal, wenn wir begeistert sind, kommt es im Gehirn zur Aktivierung der emotionalen Zentren. Die dort liegenden Nervenzellen haben lange Fortsätze, die in alle anderen Bereiche des Gehirns ziehen. An den Enden dieser Fortsätze wird ein Cocktail von neuroplastischen Botenstoffen ausgeschüttet. Diese Botenstoffe bringen nachgeschaltete Nervenzellverbände dazu, verstärkt bestimmte Eiweiße herzustellen. Diese werden für das Auswachsen neuer Fortsätze und für die Festigung und Stabilisierung all jener Verknüpfungen gebraucht, die im Hirn zur Lösung eines Problems oder zur Bewältigung einer neuen Herausforderung aktiviert werden..

 

 

 

Insofern kann kulturelles Handeln, sei es als Rezeption von Kunst oder in eigenem künstlerischem Handeln unser Gehirn aktivieren und auf Lösung hin programmieren. Kreativität ist heute eine zentrale Voraussetzung für Erfolg jeder Art.

 

 

 

Der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther führt weiter aus:

 

 

 

Wir sind gefangen in Routinen. Indem wir älter werden, Erfahrungen sammeln und unsere Lebenswelt nach unseren Vorstellungen gestalten, laufen wir zunehmend Gefahr, im Hirn einzurosten. Wir machen, was getan werden muss. Wir funktionieren. Der Preis dafür ist hoch: für uns verliert das Leben seinen eigentlichen Reiz. Wir haben zwar unser Leben optimal in den Griff bekommen; unsere kindliche Begeisterungsfähigkeit mit seinen ganzen Reizen für unseren Geist haben wir aber bis zur Leblosigkeit abgewürgt.

 

 

 

So wie es einem einzelnen Menschen mit der fehlenden Begeisterung ergeht, ergeht es heute auch unserer menschlichen Gemeinschaft. Unsere ganze Gesellschaft hat gewissermaßen kollektiv die Begeisterungsfähigkeit verloren. Es fehlt ihr sichtbar an Kreativität, Lebensfreude, Entdeckerlust und Gestaltungskraft. Sie hat alles – scheinbar – im Griff und lässt sich sogar von Krisen kaum noch erschüttern. Sie funktioniert noch, aber sie lebt nicht mehr.

 

Die moderne Hirnforschung kennt den Weg hinaus aus diesem Dilemma. Sie hat wissenschaftlich ergründet: Alles, was Menschen hilft, was sie einlädt, ermutigt und inspiriert, eine neue, andere Erfahrung zu machen als bisher, ist gut für das Hirn und damit gut für die Gemeinschaft. Menschen, die sich noch einmal mit Begeisterung für etwas öffnen, was ihnen bisher verschlossen war, praktizieren dieses wunderbare Selbstdoping für das eigene Gehirn. Die Wissenschaft nennt diesen Prozess Potenzialentfaltung.

 

Zitatende

 

 

 

Kulturelles Handeln ist ein Weg dazu.

 

 

 

 

 

Kultur und Schule, Kultur und Pädagogik

 

Zur Kultur gehört ganz wesentlich auch die Schule und unser Erziehungssystem. Die Grundsätze der modernen Pädagogik sind denn auch Förderung von

 

  • Eigenaktivität,
  • Kreativität
  • Eigenständigkeit
  • Empathie
  • Problemlösungsfähigkeiten
  • Neugier
  • Begeisterung

 

 

 

Insofern ist ein entsprechend modernes Schulwesen auch ein Kulturfaktor, der ländliche Regionen stärkt. Aber wie immer sind es vor allem die Menschen, die sich in das Gemeinwesen einbringen, Impulse geben, Aufgaben übernehmen. Es braucht eine gewisse „kreative Klasse“, um ein geistig anregendes Klima zu schaffen. Früher war das insofern einfacher, als nicht nur die Pfarrer sondern auch die Lehrer Residenzpflicht hatten. Sie waren vor Ort, dirigierten Chöre, spielten in der Kirche Orgel oder übernahmen die Jugendarbeit. Aber die Zeiten ändern sich und wir benötigen neue Formen des Zusammenlebens.

 

 

 

 

 

Nun komme ich zum Schluss und möchte nochmals die Zusammenhänge von kulturellem Handeln und Regionalentwicklung zusammenfassend darstellen.

 

 

 

 

 

<Kulturelles Handeln und Regionalentwicklung>

 

 

 

  •  Indem die Auseinandersetzung mit Kunst und das eigene kulturelle Handeln zur Entstehung neuer innerer Bilder beitragen, entstehen neue Lebensmodelle. Wirtschaftliche oder soziale Veränderungen machen weniger Angst, weil die Menschen bereits eine mentale Gymnastik, ein Training im Umgang mit Veränderung absolviert haben. Der Zukunftsforscher Matthias Horx ist der Meinung, dass Angst der größte Hemmschuh von Entwicklung ist. Sie wirke wie eine ansteckende Krankheit, wie eine Epidemie.
    Kulturelles Handeln kann uns hier widerstandsfähiger machen, weil es unser Gehirn entsprechend entwickelt. Und wenn genügend Menschen mit auf Lösung getrimmten Hirnen zusammenkommen, dann entsteht ein neues Klima, mehr Optimismus und ganz einfach mehr Erfolg. Die gute Nachricht ist dabei, dass es nur 10% „Inspirierte“ braucht, um Projekte und Veränderungen in Gang zu bringen.

 

  •  Der amerikanische Wirtschaftsgeograf Richard Florida spricht von der „kreativen Klasse“, man könnte es auch die kulturtragende Schicht nennen, die für ein lebendiges Gemeinwesen notwendig ist. Ihnen ist im umfassenden Sinne das kulturelle Handeln zu eigen und sie ziehen dann Gleichgesinnte nach.

 

  •  Auch in den ländlichen Räumen gilt, dass die Zukunft von einer ideengetriebenen Wissensgesellschaft geprägt ist. Die heutige Arbeitsorganisation verlangt wesentlich mehr Selbstständigkeit im Denken und Handeln, mehr Autonomie und mehr Kreativität beim Lösen von Problemen. All dies kann man durch kulturelles Handeln üben.

 

  •  Diese Aktivierung, die sowohl mit der Rezeption als auch der Produktion von Kunst und Kunsthandwerk verbunden ist, stärkt das Wachstum von unten, welches langfristig notwendig ist, da immer höhere Staatsausgaben auf Dauer keine Lösung sind

 

  •  Der bereits genannte amerikanische Wirtschaftsgeograf Richard Florida spricht von „resets“ und meint damit umfassende, grundlegende Umwälzungen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Sie beschränken sich keineswegs nur auf ökonomische und finanzielle Ereignisse. Ein echter Reset verändert nicht nur die Innovations- und Produktionsweise, sondern führt zu einer völlig neuen Wirtschaftslandschaft. Es geht ganz einfach darum, wie man Menschen dazu bringt, ihre Talente zu entwickeln und ökonomisch zu nutzen.
    So bringen Resets manche Regionen nach vor, während andere einen Niedergang erleben. Diejenigen Regionen, wo es gelingt, dass sich Verhaltensweisen, Sozialsysteme, Technologien, Institutionen und Geschäftspraktiken den neuen Bedingungen anpassen, werden erfolgreich sein. Sie ziehen dann auch gut ausgebildete talentierte Arbeitskräfte an, die ein Eckpfeiler wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit sind und wiederum die Zukunftsaussichten der Regionen verbessern. Die kreativen Köpfe einer Gesellschaft und die von ihnen ausgehenden Innovationen sind entscheidend für das ökonomische Wachstum von Regionen. In diesem Sinne stärkt kulturelles Handeln alle und eben auch ländliche Regionen.